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Classiques Garnier

Historische Bilanz der deutsch- und französischsprachigen Forschung zur „ gregorianischen Reform“ Eine interdisziplinäre und vergleichende Bestandsaufnahme zur Wiederaufnahme des transnationalen Dialogs

  • Type de publication : Article de collectif
  • Collectif : La Réforme grégorienne, une « révolution totale » ?
  • Auteurs : Martine (Tristan), Winandy (Jérémy)
  • Pages : 11 à 13
  • Collection : Rencontres, n° 494
  • Série : Civilisation médiévale, n° 42
  • Thème CLIL : 4027 -- SCIENCES HUMAINES ET SOCIALES, LETTRES -- Lettres et Sciences du langage -- Lettres -- Etudes littéraires générales et thématiques
  • EAN : 9782406111054
  • ISBN : 978-2-406-11105-4
  • ISSN : 2261-1851
  • DOI : 10.15122/isbn.978-2-406-11105-4.p.0011
  • Éditeur : Classiques Garnier
  • Mise en ligne : 12/05/2021
  • Langue : Allemand
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Historische Bilanz der deutsch-
und französischsprachigen Forschung zur „gregorianischen Reform“

Eine interdisziplinäre und vergleichende Bestandsaufnahme zur Wiederaufnahme des transnationalen Dialogs

Da es eine solide Tradition des deutsch-französischen Dialogs in der mittelalterlichen Geschichte gibt1, scheint es eine der besten Möglichkeiten zu sein, diesen Dialog zu erneuern, indem man nicht die Punkte herausstellt, die zusammenführen, sondern im Gegenteil diejenigen betrachtet, die trennen. Dadurch kann man die Bedingungen dieses Dialogs beleuchtet und gleichzeitig hinterfragen, welche historischen Entwicklungen, welche verfügbaren Quellen und welche historiographischen Traditionen die – manchmal tiefgreifende – Kluft erklären können, die in bestimmten Fragen zwischen der deutschen und der französischsprachiger Forschung besteht.

Einen solchen Fall stellt die „Gregorianische Reform“ dar. Unter diesem Begriff wird in Frankreich ein Phänomen verstanden, dass auf der anderen Seite des Rheins vor allem als „Investiturstreit“ bekannt ist. Hierbei handelt es sich nicht nur um einen lexikalischen Unterschied, sondern auch und vor allem um ein abweichendes Verständnis der Entwicklung. Der Ausdruck „gregorianische Reform“ ist problematisch : In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von zwei Protestanten, F. Guizot und J. Voigt, initiiert und ein halbes Jahrhundert später in Deutschland theoretisiert2, 12betont er durch die „Reform“ einerseits eine moralische Interpretation. Andererseits ist die Verengung auf den namensgebenden „gregorianischen“ Konflikt zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. zu restriktiv, da gleich mehrere Päpste ab dem Pontifikat von Leo IX. eine ähnliche Politik verfolgten. Seit der Veröffentlichung des äußerst einflussreichen Werkes von A. Fliche zwischen 1924 und 19373 ist der Ausdruck dennoch fest in den französischen Köpfen verankert geblieben4, wobei „Gregorianische Reform“ hierbei heuristisch als „Idealtypus“5 für eine deutlich weitreichendere Dynamik zu verstehen ist. Dagegen schlugen auf französischer Seite J. Paul die Formel der „päpstlichen Reform“ und auf deutscher Seite R. Schieffer die „papstgeschichtliche Wende“ vor6.

Im deutschsprachigen Raum spricht man dagegen hauptsächlich vom „Investiturstreit“, was auch auf eine unterschiedliche Interpretation des Zeitraumes hinweist, da diese Formulierung hauptsächlich die Jahre 1076-1122 umfasst7. Generell stellen die chronologischen Grenzen dieser Entwicklung ein Problem dar : wenn die Jahre 1049-1122/1123, also die Zeit vom Pontifikat Leos IX. bis zum Wormser Konkordat oder dem ersten Laterankonzil lange Zeit als zentral angesehen wurden, ist das heute umstritten. So haben die monastischen Reformbewegungen des 10. und 11. Jahrhunderts, insbesondere aus Gorze oder Cluny, die päpstlichen Theorien der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts in ihrer Philosophie entscheidend geprägt, während in anderen Regionen die konkreten Auswirkungen dieses Konfliktes erst Ende des 12. oder sogar erst Anfang des 13. Jahrhunderts zu spüren waren. Der „Investiturstreit“ wurde in den 1970er Jahren vor allem von der Verfassungsgeschichte untersucht, was erklärt, warum er heute als gut erforscht und in seiner 13Frageperspektive sogar als veraltet angesehen wird. Vielleicht auch deshalb wird diese Epoche vom deutschsprachigen wissenschaftlichen Nachwuchs häufig vernachlässigt8. Umgekehrt hat das Thema in der französischsprachigen Forschung im letzten Jahrzehnt eine Wiederbelebung erfahren, da es jenseits eines institutionellen oder religiösen Ansatzes als eine „totale Wende“ von einem Mittelalter zum nächsten, als ein großer sozialer, politischer und intellektueller Bruch verstanden wird.

Um über diese abweichenden Deutungen zu diskutieren, wurde dank der Unterstützung des „Centre interdisciplinaire détudes et de recherches sur lAllemagne“ (im Rahmen der „Colloques Juniors“ des CIERA), des CIHAM (UMR 5648), der Universität Lyon III und des Deutsch-Französischen Instituts für Geschichts- und Sozialwissenschaften (IFRA/SHS) am 28. und 29. März 2019 in Lyon ein Kolloquium junger Forscher veranstaltet, dessen Ergebnisse dieser Band wiedergibt.

Auch wenn die „gregorianische Reform“ je nach historischen Schulen, nationalen Kulturen oder konfessionellen Traditionen Gegenstand unterschiedlicher Ansätze war, ist sie lange Zeit vor allem als Phänomen der Kirchen- oder Religionsgeschichte betrachtet worden. Deshalb erschien es sinnvoll, einen interdisziplinären Dialog zwischen Spezialisten der Kunstgeschichte, der politischen Geschichte, der Religionsgeschichte, der Theologie und der Rechtsgeschichte zu initiieren. Die Idee bestand darin, eine historiographische Betrachtungsweise zu wählen, die es ermöglicht, Disziplin für Disziplin eine Bestandsaufnahme des Forschungsstandes vorzunehmen, um hierdurch die Grundlagen für einen transnationalen Vergleich zu schaffen und so einen erneuerten Dialog anzuregen.

Tristan Martine

Université dAngers

Jérémy Winandy

Universität Hamburg

1 Siehe exemplarisch : Otto Gerhard Oexle und Jean-Claude Schmitt (Hg.), Les tendances actuelles de lhistoire du Moyen Âge en France et en Allemagne, Paris, Publications de la Sorbonne, 2002 ; Geneviève Bührer-Thierry, Steffen Patzold und Jens Schneider (Hg.), Genèse des espaces politiques (ixe-xiie siècle). Autour de la question spatiale dans les royaumes francs et post-carolingiens, Turnhout, Brepols, 2017 ; Tristan Martine, Jessika Nowak und Jens Schneider (Hg.), Espaces ecclésiastiques et seigneuries laïques. Définitions, modèles et conflits en zones dinterface (ixe-xiiie siècle) / Kirchliche Räume und weltliche Herrschaften. Definitionen, Modelle und Konflikte in Kontaktzonen (9.-13. Jahrhundert), Paris, Éditions de la Sorbonne, im Druck.

2 Charles de Miramon, « Linvention de la Réforme grégorienne. Grégoire VII au xixe siècle, entre pouvoir spirituel et bureaucratisation de lÉglise », Revue de lhistoire des religions, 2/2019, p. 283-315.

3 Augustin Fliche, La réforme grégorienne, 3 Bd., Louvain-Paris, Champion, 1924, 1925 und 1937.

4 Sylvain Gouguenheim, La réforme grégorienne. De la lutte pour le sacré à la sécularisation du monde, Paris, Temps Présent, 2010.

5 Florian Mazel, « Pour une redéfinition de la réforme “grégorienne” : éléments dintroduction », La réforme “grégoriennedans le Midi (milieu xie-début xiiie siècle), Cahiers de Fanjeaux, 48, Toulouse, Privat, 2013, S. 10.

6 Jacques Paul, LÉglise et la culture en Occident, t. 1 : La sanctification de lordre temporel et spirituel, Paris, PUF, 1986, S. 293 ; Rudolf Schieffer, « Motu proprio. Über die papstgeschichtliche Wende im 11. Jahrhundert », Historisches Jahrbuch, 122/2002, S. 27-41.

7 Claudia Zey, Der Investiturstreit, München, C.H. Beck, 2017 ; Wilfried Hartmann, Der Investiturstreit, München, R. Oldenbourg, 2007 ; Werner Goez, Kirchenreform und Investiturstreit. 910-1122, Stuttgart, W. Kohlhammer, 2000.

8 Siehe exemplarisch : Gerhard Lubich, Lisa Klocke und Matthias Weber (Hg.), Das Hochmittelalter – eine vernachlässigte Epoche ? Neue Forschungen zum 11. und 13. Jahrhundert, Frankfurt am Main, Peter Lang, 2020.